Kernprofil des Christentums: “Versöhnung”

Predigt von P. Thomas Eggensperger OP  in der KSG Berlin am 17.09.2023

 

Lesung: Sir 27, 30 – 28,7

Evangelium: Mt 18, 21-35

(24. Sonntag im Jk)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Es ist evident, dass das Phänomen der „Versöhnung“ für das christliche Leben zentral ist. Vor allem die jüdisch-christliche Tradition kann sich zugutehalten, diese Kategorie in die Kultur- und Geistesgeschichte eingebracht zu haben. Wenn es ein wirkliches Spezifikum christlicher Religion geben sollte, etwas, was sie von anderen Religionen wesentlich unterscheidet, dann ist es wohl u.a. das Ereignis der Versöhnung.

Nicht, dass es Versöhnung und die entsprechende Beziehung zu Schuld und Sünde religionsgeschichtlich nirgendwo anders gegeben hätte, aber in der Ausprägung dessen, was heute unter ihr verstanden wird, war das christliche Verständnis das nachhaltigste. Die Schriften des Alten und Neuen Bundes sind voll von Geschichten der Versöhnung.

Über Versöhnung haben bereits viele bedeutende Denker, Philosophen, Theologen und Künstler nachgedacht. Heute möchte ich auf eine Frau eingehen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Ich spreche von Hannah Arendt.[1] Sie ist eine der bedeutenden deutschen Philosophinnen, die wegen ihrer jüdischen Abstammung in die USA emigrierte und dort Karriere machte zunächst als Journalistin, dann als Forscherin für Politische Theorie in Chicago und New York, bis sie dann 1975 starb.

Hannah Arendt hat ein Buch geschrieben, welches über das menschliche Handeln nachdenkt. Der Titel des Buches lautet auf Deutsch: „Vita Activa oder vom Tätigen Leben“ und versucht das Handeln des Menschen als Einzelnem, aber auch als ein Teil der Gesellschaft zu umschreiben. Es führt zu weit, dieses Buch an dieser Stelle zu präsentieren, sondern ich möchte nur auf ein einziges Kapitel in dem Werk eingehen, das die „Versöhnung“ zum Thema hat.[2]

Das Buch – erschienen übrigens 1958 – geht aus von der Freiheit des Menschen mit der Konsequenz, dass er für alles, was er tut, verantwortlich ist. Arendt benennt dabei zwei Weisen der Freiheit: Zum einen die so genannte metaphysische Freiheit, die jedem von Anbeginn gegeben ist, und zum anderen die politische Freiheit, die allerdings erst zu entwickeln ist und um die der Mensch ringen muss. Politische Freiheit kann aber nicht im privaten, sondern nur im politischen Bereich erfahren werden, nämlich in der Teilnahme am politischen Geschehen des eigenen Gemeinwesens.

Das Kapitel 33, das überschrieben ist mit „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“,[3] diskutiert das Phänomen des Verzeihens im Kontext des handelnden und freien Menschen:

„Das Heilmittel … dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen.“[4]

Dies ist zu präzisieren: Die eigene Erfahrung, dass Verzeihung gewährt wird bzw. Versprechen gehalten werden, ist Voraussetzung dafür, dass jemand sich selbst verzeihen bzw. etwas halten kann.

Nach Arendt zeigt sich, wie viel Macht dem Menschen eigen ist im Vermögen zum Handeln, wenn man sich vor Augen hält, wie zerstörerisch eine Situation ohne Handeln wäre.

Arendt weist ausdrücklich darauf hin, dass es Jesus von Nazareth war, der als erstes die Bedeutung von Verzeihen im Bereich des Menschlichen gesehen hat. Zumindest sieht sie keine vergleichbaren Traditionen, wenn man einmal vom römischen Prinzip der Schonung des Besiegten (parcere subiectis) oder dem Begnadigungsrecht absieht.

Der entscheidende Punkt ist, dass Gott erst vergeben kann, wenn die Menschen sich dazu aufgerafft haben, zu vergeben. Fehlverhalten ist ein alltägliches Vorkommnis menschlichen Handelns, aber es bedarf gemäß dem Evangelium der jeweiligen Verzeihung. Im Gegensatz zur Rache ist Verzeihung per se unerwartet und unberechenbar.

Böse Taten sind Untaten, weil sie den zwischenmenschlichen Machtbereich zerstört. Arendt betont, dass das Vergeben sich nicht auf eine Sache, sondern auf eine Person bezieht. Verzeiht man dem Übeltäter, verzeiht man ihm zwar, aber das begangene Unrecht bleibt weiterhin Unrecht.

Im Politischen ist das Verzeihen ihrer Meinung nach unter anderem deshalb niemals ernst genommen worden, weil es aus dem benannten religiösen Kontext entstammt und vom Phänomen der Liebe abhängig gemacht wurde.

Arendt bezieht sich dabei sowohl auf das Liebesgebot Jesu bei der Begegnung mit der Sünderin („Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat, Lk 7, 47) als auch auf die unendliche Macht von wahrer Liebe, die verzeiht, weil der oder die Liebende „mit Blindheit geschlagen“ ist hinsichtlich der Vorzüge und Mängel des oder der Anderen.

Allerdings stimmt Arendt der Einschätzung nicht zu, dass ausschließlich die Liebe verzeihen kann, wie es ihrer Meinung nach im Christentum behauptet wird. Dafür ist ihr die Liebe eine zu eng geführte Vorstellung, die sie zu erweitern sucht. Deshalb schlägt sie als Alternative den „Respekt“ vor, weil er zum einen bedeutet, die Person zu achten (wenngleich ohne der Intimität von Liebe) und zum anderen, sie zu respektieren unabhängig von der jeweiligen Eigenschaft der Person.

„Jedenfalls bildet Respekt durchaus einen hinreichenden Beweggrund, jemanden das, was er getan hat, zu vergeben, um dessentwillen, der er ist.“[5]

Die pessimistische Vermutung Arendts aus den ausgehenden fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dass das Verzeihen im Politischen nicht ernst genommen wird, darf man heute relativieren. Die Philosophin behauptet auch nicht, dass es so etwas nie gegeben habe, aber sie konzediert, dass die entsprechenden Versuche nicht konsequent oder nachhaltig genug waren. Dennoch ist Versöhnung, wie bereits dargestellt, inzwischen eine aktuelle Komponente sowohl des politischen Alltagsgeschäftes als auch der philosophisch-politischen Theorie. Die politische Versöhnungsarbeit von heute wird geleistet auf unterschiedlichen Niveaus und in mehreren Etappen.

Neben dem Versuch der Aufdeckung von Wahrheit (z.B. in Wahrheitskommissionen), der Suche nach Gerechtigkeit (Strafgerechtigkeit als restaurative Gerechtigkeit) steht die Versöhnung. So existiert heute neben der theologischen Komponente von Versöhnung eine philosophisch-politische, die ihren Grund in der Theologie hat, aber inzwischen gleichberechtigt neben ihr steht.

Versöhnung – auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich – ist ein hohes Gut und es braucht erst einmal die Voraussetzungen dafür. Wenn wir uns das am Beispiel des Ukraine-Kriegs anschauen, dann merken wir schnell, wie viel es braucht an Grundlagen, um überhaupt über Vergeben und Versöhnen zu reden.

Ich denke, dass die Denkerin Hannah Arendt viel dazu beigesteuert hat, die Versöhnung als zentralen Punkt christlicher Religion wahrzunehmen. Man sollte ihr dankbar sein.

Amen.

 

Thomas Eggensperger OP

 

[1] Folgende Ausführungen entnehme ich: Thomas Eggensperger, Die Macht zu verzeihen. Versöhnung als Aufgabe der politischen Philosophie, in: Alessandro Cortesi / Thomas Eggensperger / Ulrich Engel (Hrsg.), Versöhnung. Theologie – Philosophie – Politik. Riconciliazione. Teologia – filosofia – politica (Kultur und Religion in Europa Bd. 5), Münster 2006, 83-99.

[2] Es handelt sich um das 33. Kapitel von Hannah Arendt, The Human Condition, University of Chicago Press, Chicago 1958. Deutsch: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 231-238.

[3] Arendt, Vita activa, a.a.O., 231-238.

[4] Ebd., 231.

[5] Arendt, Vita activa, a.a.O., 238.

Die KSG wünscht allen Studierenden einen erholsamen Sommer!

Im August feiern wir keine Gottesdienste in der KSG.
Weiter geht es am 03.09., 19:00 Uhr mit der KSG-Messe.

Semesterschluss-Gottesdienst

Wir beenden das Sommersemester mit einem großen Schlussgottesdienst und anschließendem fröhlichen Get-together im Hof und in der KSG.

“männlich, weiblich und alles dazwischen”

Predigt von Juliane Link in der KSG Berlin am 09.07.2023

Seit kurzem ist Juliane Link verantwortlich für die queersensible Seelsorge in der KSG. In ihrer Predigt zeigt sie neue Perspektiven auf den ersten Schöpfungsbericht auf, der – wie auch viele andere Bibelstellen – durchaus als offen für die Realität vielfältiger Genderidentitäten und sexueller Orientierungen gelesen werden kann.

 

männlich und weiblich und alles dazwischen

Predigt von Juliane Link

In ihrer Predigt spricht Juliane Link über den weiten Raum der Möglichkeiten, den der erste Schöpfungsbericht mit Blick auf Genderidentitäten und sexuelle Orientierungen eröffnet. Außerdem teilt sie Überlegungen dazu, was wir in der KSG unter queersensibler Seelsorge verstehen und wie man mit dem Dilemma umgehen kann, wenn die eigenen Überzeugungen und das kirchliche Lehramt auseinandergehen.

Prolog zur Predigt: Freie Nacherzählung des ersten Schöpfungsberichts

Zu Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Aber die Erde war Chaos und Wüste. Dunkelheit lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Am ersten Tag schuf Gott auf diese Weise Tag und Nacht.

Aber Gott schuf auch die Dämmerung und den Sonnenaufgang und die blaue Stunde.

Und Gott fragte nicht, ob die blaue Stunde zum Tag oder zur Nacht gehört.

Am zweiten Tag schuf Gott Himmel und Erde.

Aber Gott schuf auch die Berge, die in den Himmel ragen und den Regen, der vom Himmel auf die Erde fällt. Gott schuf den Nebel und das Flimmern der Sommerhitze am Horizont. Gott schuf den Schnee und den Morgentau.

Und Gott fragte nicht, ob der Tau zum Himmel oder zur Erde gehört.

Am dritten Tag schuf Gott das Festland und schied es von den Meeren.

Aber Gott schuf auch die Inseln auf den Flüssen und die Seen im Landesinneren, das Wattenmeer und die Sandbänke, den Sumpf und das ewige Eis.

Und Gott fragte nicht, ob das ewige Eis zum Wasser oder zum Land gehört.

Am gleichen Tag schuf Gott das Gras und das Kraut und die Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen. Aber Gott schuf auch die Blumen, die zwischen den Gräsern auf der Wiese wachsen, die Kletterpflanzen, die sich an den Bäumen emporwinden, das Getreide auf dem Feld und die Kakteen. Gott schuf das Schilf, den Dschungel und das Gebüsch.

Und Gott fragte nicht, ob das Gebüsch zu den Gräsern oder zu den Bäumen gehört.

Am vierten Tag schuf Gott Sonne, Mond und Sterne. Aber Gott schuf auch die Zwergplaneten und die Kometen, die schwarzen Löcher und die Sternschnuppen und zwischen den Himmelskörpern den Weltraum.

Und Gott fragte nicht, ob die Lichtjahre zwischen Sonne und Mond zu dem einen oder zu dem anderen Gestirn gehören.

Am fünften Tag schuf Gott die Fische und die Meerestiere und die Vögel. Gott sprach, dass es im Wasser wimmeln soll vor Vielfalt und die Vögel fliegen sollen in aller Freiheit. Gott sprach: seid fruchtbar und vermehrt euch, erfüllt das Wasser mit eurer schillernden Anwesenheit und die Erde mit eurem Gesang.

Und angesichts ihrer Schönheit stellte Gott keine Fragen zu den fliegenden Fischen und den schwimmenden Enten und den tauchenden Kormoranen. Gott fragte nicht einmal, ob der Pinguin zu den Meerestieren oder zu den Vögeln gehört.

Am sechsten Tag schuf Gott die Landtiere: das Vieh und die Kriechtiere und das Wild der Erde, ein jedes nach seiner Art.

Und Gott sah, dass es gut war und er haderte nicht mit den Landtieren, die sich zum Wasser hingezogen fühlten und den flugunfähigen Vögeln. Gott mochte auch die Krokodile, die Schildkröten und den Vogelstrauß.

Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. Und Gott schuf die Menschen zu seinem Bilde, Gott schuf sie als männlich und weiblich.

Und manche waren eindeutig männlich oder eindeutig weiblich und fühlten sich hingezogen zum anderen Geschlecht. Aber Gott schuf auch Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten oder zu beiden Geschlechtern. Gott schuf männliche und weibliche Menschen, aber auch solche die trans oder inter waren. Und Gott fragte nicht, ob sie zu den weiblichen oder zu den männlichen gehören, denn sie alle glichen etwa der göttlichen Gestalt.

Stattdessen sprach Gott: Seid fruchtbar und vermehrt euch, seid zärtlich zueinander und kümmert euch um alles, was ich euch anvertraut habe.

Und dann sah Gott, dass es sehr gut war.

Und Gott segnete sie. Alle.

Im Zwischenraum ist Platz für Vielfalt

Liebe Studierende, liebe Gemeinde,

der Text, den wir gerade gehört haben ist inspiriert vom ersten Schöpfungsbericht der Bibel, aber auch von Irmtraud Fischer, einer Theologin, die sich mit Liebe und Sexualität im Alten Testament beschäftigt. Sie deutet den ersten Schöpfungsbericht, den wir in der Lesung gehört haben so, dass er ein möglichst umfassendes Bild von Gottes Schöpfung zu zeichnen versucht, indem er die äußersten Pole von all dem benennt, das von Gott geschaffen wird: Himmel und Erde, Land und Wasser, Sonne und Mond. Die gesamte Anlage des Textes ist polar: die äußeren Pole werden benannt, aber alles dazwischen ist auch gemeint, es wird berichtet, dass Gott Tag und Nacht erschafft, aber das dabei auch die Dämmerung entsteht, bleibt unerwähnt. Dabei spannt sich in dem weiten Raum zwischen den Polen Gottes Schöpfung erst auf. Es gibt sehr vieles in diesem Zwischenraum, all das gehört zu Gottes Schöpfung, es wird nur nicht explizit benannt. Irmtraud Fischer sagt: so ist es auch mit dem Menschen, der von Gott als männlich und weiblich geschaffen ist. In vielen Bibelstellen steht „Gott schuf die Menschen als Mann und Frau“, das ist aber eine ungenaue Übersetzung, eigentlich steht da: „als männlich und weiblich“. Und auch zwischen männlich und weiblich gibt es einen weiten Raum von Möglichkeiten, die nicht benannt, aber mitgemeint sind. In diesem Zwischenraum dürfen wir uns mit unserer Genderidentität verorten, auch wenn sie nicht eindeutig männlich oder weiblich ist und in diesem Zwischenraum ist Platz für die Vielfalt sexueller Orientierungen, die in uns genetisch angelegt sind.

Wer queer ist, ist in der KSG willkommen!

In dem Text, den ihr gerade gehört habt, habe ich versucht Beispiele für all das zu finden, was sich zwischen den Polen befindet und es zu würdigen. Denn unsere Welt wäre ganz schön arm und einseitig und langweilig, gäbe es nichts zwischen den Polen. Auch hier in der KSG gibt es Studierende, die sich als queer geoutet haben, einige mit der Bewegung OUT IN CHURCH, andere in persönlichen Gesprächen. Ich glaube, dass es eine sehr persönliche Entscheidung ist, ob man sich outen möchte oder nicht. Niemand, der queer ist, sollte unter Druck kommen, als Botschafter*in für die queer-Community auftreten zu müssen. Aber wenn ihr queer seid, dann sollt ihr wissen, dass ihr das hier sein dürft.

Queersensible Seelsorge: ein Angebot für alle!

Das wollte ich schon lange mal in einem Gottesdienst sagen, aber dafür, dass ich heute hier über diese Thema predige, gibt es einen Anlass: wir wollen damit feiern, dass wir uns als KSG entschieden haben, der Bitte des Bischofs zu folgen, eine Ansprechperson für queersensible Seelsorge zu benennen. Das hat einen Prozess angestoßen, in dem wir uns darüber Gedanken machen, welche Bedingungen es für queersensible Seelsorge in der KSG braucht: Und wir glauben: Die Voraussetzung dafür ist, dass die KSG ein queerfreundlicher Ort ist. Ein Ort, an dem sich niemand Sorgen machen muss, dass er wegen seiner sexuellen Orientierung oder wegen seiner Genderidentität verletzenden Bemerkungen ausgesetzt ist. In der Gemeindeversammlung haben wir vor kurzem darüber abgestimmt, dass wir so etwas nicht dulden und als Form von Diskriminierung verstehen. Und gleichzeitig haben wir im Gemeinderat darüber gesprochen, dass wir nicht einfach behaupten können, dass wir alle total offen und woke sind, während einige von uns vielleicht gar nicht so viel über Queerness wissen. Eine Sorge war, dass man ausversehen etwas Verletzendes sagt oder dass nicht alle gleicher Meinung sind, wie es auch bei anderen Themen in der KSG ist. Deshalb haben wir uns überlegt, dass wir ab jetzt immer wieder über das Thema informieren wollen, damit die, die sich nicht gut auskennen sensibilisiert und mit dem Thema vertrauter werden. Das werde ich als Verantwortliche für queersensible Seelsorge organisieren und dazu werde ich euch bald auch einladen, gemeinsam zu überlegen, was wir machen wollen. In diesem Sinne ist queersensible Seelsorge ein Angebot für alle.

Queersensible Seelsorge für LGBTQIA* Personen

Darüber hinaus ist queersensible Seelsorge aber natürlich auch ein Angebot für Menschen, die sich selbst als queer verstehen. Und ein kurzer Einschub: sie als queere Menschen zu bezeichnen, klingt für mich irgendwie komisch und aktuell wird meines Wissens nach stattdessen am häufigsten die Abkürzung LGBTQIA* verwendet. Das steht für lesbisch, schwul, trans*, queer, inter* und asexuell und das Sternchen am Ende ist ein Verweis darauf, dass es viele weitere Bezeichnungen und Verortungen von Personen geben kann.

Wenn ihr zu diesen Personen gehört, könnt ihr bei mir geistliche Begleitung, Coaching oder Seelsorge wahrzunehmen, aber auch die Gesprächsangebote von Pater Max und Karen sind queersensibel. Das war natürlich auch schon vorher so, aber jetzt ist es offiziell, dass man mit uns offen reden kann, ohne komische Reaktionen befürchten zu müssen. Warum müssen wir das so explizit sagen? Weil es leider nicht selbstverständlich ist. Wir sind uns bewusst, dass LGTBQIA* Personen im kirchlichen Kontext Verletzungen, Diskriminierung und Abwertung erfahren haben und an vielen Orten weiterhin erfahren. Mich empört das und ich schäme mich dafür. Wer Verletzendes erfahren hat, ganz gleich, welche Art von Verletzung und welcher Schweregrad, kann sich an uns wenden und muss keine Sorge haben, dass wir das nicht ernst nehmen.

Queere Theologie: Über den Umgang mit Clobber Passages und die Suche nach Vorbildern

Neben konkreter Seelsorge, zu der nach natürlich auch die Segnung von Paaren gehört, wollen wir im Rahmen der queersensiblen Seelsorge auch ein Angebot zu queerer Theologie machen. Queere Theologie befasst sich zum Beispiel mit den sogenannten „Clobber Passages“. Ich kann das heute hier nur anreißen, aber gemeint sind Bibelstellen, in denen homosexuelle Handlungen scheinbar verurteilt werden. Viele Stellen werden aber falsch übersetzt oder von uns heute falsch verstanden, weil wir den Kontext nicht kennen. Häufig geht es nicht um Homosexualität, sondern um eine Distanzierung von Zwangsprostitution und sexualisierter Gewalt, die manche Männer nicht nur an Frauen, sondern auch an anderen Männern verübten. Aber natürlich spiegeln die Texte auch die Gesellschaften wieder in denen sie entstanden sind: patriarchale Gesellschaften, in denen vieles undenkbar war, das für uns heute selbstverständlich ist, gerade mit Blick auf sexuelle Selbstbestimmung. Umso erstaunlicher ist es, dass es, gerade im Alten Testament, einige Bibelstellen gibt, in denen Menschen Beziehungen führen, die als queere Liebesbeziehungen gedeutet werden können. Ruth und Naomi oder David und Jonathan sind Beispiele. Mit der Bibel lässt sich Queerfeindlichkeit also nicht kohärent begründen.

Was machen wir mit dem Katechismus?

Aber dennoch gibt es für uns als Katholik*innen ein Problem: Was machen wir damit, dass die katholische Kirche in ihrem Katechismus die bestehende Vielfalt sexueller Orientierungen und Genderidentitäten nicht als gleichberechtigte Möglichkeiten anerkennt, die eigene Sexualität zu leben und homosexuelle Handlungen als unmoralisch verurteilt?

Ich habe darauf zwei Antworten:

1. Wir können immer noch für Veränderung eintreten.

Erstens: Wir können immer noch für Veränderung eintreten. Der synodale Weg hat das getan. Die Mehrheit der Beteiligten plädierte für das Grundsatzpapier „Leben in gelingenden Beziehungen“, das eine Weiterentwicklung der katholischen Sexualmoral vorsah. Aber obwohl die Bischöfe in der Versammlung zahlenmäßig in der Minderheit waren, konnten sie mit ihrem Veto den Beschluss kippen. Dennoch ist ein Handlungspapier verabschiedet worden, dass die Bischöfe dazu auffordert sich um das Thema queersensible Seelsorge in ihren Bistümern zu kümmern. Dem ist unser Bischof nachgekommen, allerdings sind wir als Hauptamtlichen Team der KSG der Meinung: die jetzige Strategie ist verbesserungswürdig. Wir arbeiten deshalb gerade an einem offenen Brief an den Bischof, den wir in den nächsten Tagen abschicken, danach veröffentlichen und dann könnt ihr ihn auch unterschreiben, wenn ihr euch unseren Veränderungsvorschlägen anschließen wollt.

2. Mich entscheiden: der Autorität folgen oder meiner inneren Stimme

Und die zweite Antwort, richtet sich auch an alle von euch die sich vielleicht nicht sicher sind, was richtig ist. Ich weiß, dass manchen von euch die Lehre der Kirche sehr wichtig ist. Vielleicht sorgt ihr euch, nicht mehr richtig katholisch zu sein, wenn ihr über LGTBQIA* Personen anders denkt, als diejenigen, die die Lehrmeinung der Kirche formuliert haben.

Mich hat in dieser Frage ein Buch von Doris Reisinger sehr inspiriert, eine Theologien, die sich viel mit dem Thema „spiritueller Missbrauch“ beschäftigt hat. Sie sagt: „In der Kirche hat es immer beides gegeben. Sie besitzt eine freiheitliche und eine autoritäre Tradition […] Sie kennt das Eintreten für den Menschen, seine Gotteskindschaft und sein freies Gewissen ebenso wie das Eintreten für die institutionelle Macht und Reputation, für eine vermeintlich objektive Wahrheit und Moral […]. Sie kennt die freie theologische Forschung mit ihren verschiedenen Lehrmeinungen und Schulen ebenso wie den Anspruch der römischen Kirchenleitung, alleine das ‚ordentliche Lehramt‘ zu sein. Diese beiden Traditionen finden sich schon im Neuen Testament“1 und in vielen theologischen Schriften. Auch im Katechismus finden sich neben den autoritären Passagen über Homosexualität Stellen, die der freiheitliche Tradition zuzuordnen sind, zum Beispiel: „Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden.“2 Und im Folgenden wird ausdrücklich erklärt, dass der Mensch nicht daran gehindert werden darf, „gemäß seinem Gewissen zu handeln“3. Wie passt das nun zusammen? Doris Reisinger argumentiert: es passt überhaupt nicht zusammen und genau das ist das Problem: in ihrer Lehre springt die Kirche zwischen zwei Traditionslinien hin und her, obwohl beide sich widersprechen. Wenn nun mein Gewissen mir sagt, dass die Abwertung von LGTBQIA* Personen ebenso falsch und unmoralisch ist wie Rassismus oder Sexismus, der Katechismus aber eine solche Abwertung als Teil der katholischen Lehre festschreibt, dann sind wir als Katholik*innen in einem Dilemma, das Doris Reisinger so beschreibt: „Wenn eine geistliche Autorität und das eigene Selbst verschiedener Auffassung darüber sind, was Gott will und was richtig ist, lässt sich das nur auf zwei verschiedene Weisen lösen: Entweder ich folge der Autorität oder ich folge meiner inneren Stimme.“4

Und ich glaube im Moment muss jeder und jede von uns bezüglich dieser Frage eine eigene Entscheidung treffen. In dem Wissen, dass die KSG ein Ort ist, wo man seiner inneren Stimme folgen darf. Und ich persönlich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass es solche Orte in der Kirche gibt. Denn wenn wir noch einmal zum ersten Schöpfungsbericht zurückkommen, lese ich dort auch: Gott hat uns neben unserer Sexualität noch viel mehr gegeben: Unsere Freiheit zum Beispiel. Und unsere Verantwortung füreinander und für das Ganze.

1 Doris Wagner (heute: Reisinger): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2020, S.148 f.

2 Nummer 1782, hier nachzulesen: http://www.pfarrer.at/katechismus_moral_gebote.htm

3 Ebd.

4 Doris Wagner (heute: Reisinger): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2020, S.150.

Into the Unknown – 4. Unafraid

Homily by Karen Siebert, KSG Berlin on June 25th 2023

Speaking fearlessly of God in an ungodly world. (Matthew 10,26–33)

How can we speak of God in Berlin – an urban atheist city? How can we gather our courage to stand up for our faith when we are met with ridicule, incomprehension or even hostility? And are the words of Jesus enough to make us unafraid?

Our place in time

Hey,

who of you comes from an area where Christians are the majority?

And even more: Who comes from an area where Catholics are the majority compared to other Christian denominations?

Who comes from Berlin?

Then you are used to being a minority. It is estimated that only about 26% of Berlin’s population are Christians.

Only 8% are of Roman Catholic faith. Roughly as many as there a Muslims in Berlin.

It gets even more drastic, if you go to the countryside surrounding Berlin. Due to the communist’s anti-religious agenda of the past, only 5-8% of the population of East Germany is believing in God at all. Which makes it the least religious area of the whole world.

So this is where we find ourselves. If you come from a country or region with a very strong Christian tradition this might be very alien to you. Even for me, – I come from the west of Germany – this is a bit tough.

We sit here in Berlin – in the least religious area of the world and Jesus demands:

Acknowledge me before men.

What I tell you in the dark, say in the light.

What you hear whispered, shout it from the housetops!

Have you tried shouting your Christian faith from the roof tops of Berlin yet? Chances are that you will be either completely ignored as just another nutcase among many. Or you will get into a shouting match that will become more aggressive by the minute.

But seriously, what experiences have you made in Berlin talking about your Roman Catholic belief and your Christian faith? Or do you not talk about it all, if you are not sure that there are likeminded people around?

I myself am not the shouting type. The two occasions, I usually speak about my faith and my belief (I mean when I am not with fellow Christians) is either when I am being asked what I do for a living

Or when people ask me: Why do your kids participate in “religious education” in school? In Berlin religious education is a voluntary subject. Of the 450 kids in my sons’school, only 30 participate.

The reactions I get to my confession range from lack of interest to polite incomprehension to open dismissiveness.

Those who react highly negative usually doubt my sanity. Bbecause for them believing in God and even worse being a member of the Catholic Church stands for backward people believing in backward ideas, organised in a backward organisation.

My experiences go like this:

A guy abruptly turns away at a dinner party midway in our conversation, when he finds out that I am working for the Catholic Church.

My nine year old son has a class mate who tells him, that his mother spits at priests when she sees them and shoots stones at Christian statues with a slingshot.

 

Afraid – but why?

With none of these examples have I entered into a deeper conversation about my faith. Because there is no chance to convince them anyway? Maybe. But also because I feel afraid.

But why?

For the disciples back then there was a real danger. That is why Jesus says: And do not fear those who kill the body!

But unless I am meeting a real deranged person or a crazy fundamentalist of whatever faith, the chances of my body being killed for speaking out about God are not very high in Berlin.

So why am I afraid to speak of my faith?

Here are some reasons I found:

I am afraid of being rejected. More precisely, I am afraid of being rejected for something, I feel I am not.

I am afraid of people rejecting me, because they think that I am conservative irrational person who denies the findings of science. I am afraid people will think that I am taking the bible literally.

I am afraid that people will confuse me with an evangelist or fundamentalist Christian. E.g. denying evolution theory or standing in front of an abortion clinic shouting hell and damnation.

I am also afraid that I will come across as those people who vehemently seek to convince their dialogue partner. By speaking to them either by bombarding them with religious quotes or by overwhelming them with enthusiasm and proclamations of welcome like they are trying to sell you a fitness club membership.

This takes me to the matter of truth. I feel strange telling people what the truth is. Although my church stands for the truth.

Lastly, I sometimes am embarrassed by the Catholic Church.

I believe in the equality of men and women.

I do believe that homosexual and queer people are part of nature.

I believe that every person has a right to live, but I also believe that people and especially women need a choice. How can I represent a church that denies these claims?

 

My Christian – postmodern identity problem

Taking everything that I am afraid of, I come to the following conclusion:

I believe in God and Christ and (most) of the teachings of my church. But I have been brought up in Germany at the end of the 20th century. In a modern / post- modern society. In a country that has become increasingly secular over the last 70 years.

Due to my upbringing, I believe in reason, in science,

In equality of all people,

I believe in the freedom to choose your own faith – or none at all.

I doubt whether there is an absolute truth and believe in the right to resistance if a higher authority tells me what to do or believe but my conscience tells me otherwise.

Shouting my faith from the rooftops is not an option for me, because it would not be me.

Sorry Jesus!

Or would you like to hear me shout: I believe in God who sent his son to show us his love and to redeem us, but believe me, I am rational person!

Does that mean, that my post-modern identity has won? That I will show my Christian identity only amongst fellow believers?

The recipe for being heard

Not quite:

There have also been instances, where I spoke about my faith that have been successful.

There is my friend who lost her father and who openly says she envies me by believe in a life after death. And that she wishes to feel the same. And who asks me, to take her daughter to church with me.

There is the punk father of my son’s friend. Who really believes the world would be a better, less violent and oppressive place if there was no religion at all. We end up in a heated discussion, but it is a discussion of mutual respect and at the end we at least can agree that we are both happy to live in a land of religious freedom and of free speech. Where I can proclaim my faith and he can make jokes about it.

Two weeks ago, I was holding a workshop in the KSG about time- and self-management. During the lunch break one atheist participant wanted to know all about my faith and questioned me about my theology studies at university. She had always thought that studying theology meant learning the bible by heart and being taught how to use it convert people. She confessed that she is a strong opponent of the church tax system in Germany but that she is having second thoughts, now that she has participated in such a good workshop funded by church taxes.

In these three examples, the people have come to know me as a rational, competent, modern person first. Then they learned about my faith. What happened was, that they were open minded, even wanted find out more about my faith and my beliefs.

In these conversations, I have been unafraid.

I can tell them, how much my faith enriches my personal life.

And then they get a glimpse of how it is possible to be post-modern person and Christian at the same time.

Being normal while having more

So I chose a different way from the one Jesus demands. Because as a modern person, I am more afraid of rejection than of God’s damnation. Maybe Jesus will be dissatisfied. Or maybe he will understand.

Anyway, I will keep showing people that I am normal. Like (most) Christian are normal people. That we can live in this modern / or postmodern world without denying it.

But I will also show them, that we have more. And maybe they will get curious about what that more is.

Maybe for you, it is a whole different story. Because you grew up in different setting. Because you don’t feel uncomfortable proclaiming your faith directly and openly.

Then choose your own way. I think, the important thing is, that we proclaim our faith unafraid and in an authentic way. Because people can tell if we do not.

 

Selbstverpflichtung zu einer queerfreundlichen KSG

Beschluss der Gemeindeversammlung am 16.6.2023

In unserem Code of Conduct erklären wir es als KSG zu unserer Aufgabe, „allen Mitgliedern unserer Gemeinde ein sicheres, respektvolles und integratives Umfeld zu bieten. Wir tolerieren nachdrücklich keine Form von Rassismus, Diskriminierung, Belästigung und Mobbing in unseren Räumen und im Internet.“ Dies gilt ausdrücklich auch für Queerfeindlichkeit und Homophobie.

Queerfeindlichkeit und Homophobie sind Formen von Exklusion und Diskriminierung, die wir nicht akzeptieren. Stattdessen setzen wir uns dafür ein, dass die KSG ein queerfreundlicher Ort ist.

Konkret bedeutet das, dass wir n den Räumen der KSG keine queerfeindlichen Äußerungen tolerieren. Sollte es dennoch zu Vorfällen von Queerfeindlichkeit in der KSG kommen, bitten wir alle, die einen solchen Vorfall (mit)erleben, Vertrauensstudierende oder Hauptamtliche darauf anzusprechen, damit wir die Betroffenen unterstützen und den Vorfall aufarbeiten können. Darüber hinaus verpflichten wir uns zu einem vielfältigen geistlichen und theologischen Angebot, das queere und gendersensible Perspektiven einbezieht.

Unsere Seelsorgeangebot steht allen queeren Studierenden und Hochschulangehörigen offen. Das Seelsorgeteam der KSG hegt keine Vorbehalte gegenüber queeren Lebensentwürfen. Wir sind uns bewusst, dass queere Personen im kirchlichen und außerkirchlichen Kontext Minderheitenstress und Anfeindungen ausgesetzt sind, bis hin zu Konversionstherapien und andere Formen von religiös begründeter Manipulation und psychischer Gewalt. Menschen, die solche Erfahrungen machen mussten, können sich an uns wenden, ebenso wie Betroffene jeder anderen Form spirituellen Missbrauchs. Mit unserem Gesprächsangebot möchten wir dazu beitragen, dass sie Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung erfahren.

Into the Unknown – 2. Unruhe

Predigt von René Pachmann in der KSG Berlin am 11.6.2023

 Der Hochschulseelsorger der Viadrina (Frankfurt/Oder) setzt die Predigtreihe zum Semesterthema “Into the Unknown” fort mit Gedanken zur Unruhe und der kreativen Kraft, die in ihr liegt.

 

Was würde besser zum Semesterthema „into the unknown“ passen als Unruhe – Unruhe als Unsicherheit vor dem Unbekannten, in das wir unterwegs sind.

Als ich mich mit dem Thema Unruhe zur heutigen Predigt gemeldet habe, wusste ich nicht, was genau für eine Unruhe mich noch packen wird. Denn es gibt ja die verschiedensten Formen von Unruhe. Ich erzähle euch von einer.

Gerade arbeite ich an der Umsetzung eines größeren Projektes, bei dem wir eine sehr große Betonskulptur der polnischen Künstlerin Joanna Rajkowska aus Warschau nach Frankfurt an die Oder holen wollen. Dann soll mit verschiedenen Veranstaltungen ein breites Feld an Themen rund um die Skulptur aufgerissen werden, zusammen mit studentischen Initiativen, Lehrpersonen und anderen.

Weil die Skulptur schon ab morgen in Warschau abgebaut wird und wir bis Mitte dieser Woche noch keinen offiziellen Leihvertrag hatten und sich mit Versicherungen, Genehmigungen und Transportfirmen noch eine ganze Reihe unserer Probleme türmten, waren meine Tage bis Fronleichnam sehr unruhig.

Es war eine Unruhe, die aus den sehr vielen offenen Fragen und ungelösten Problemen bei gleichzeitig sehr hohem Einsatz finanzieller und organisatorischer Art resultierte. Es war nicht absehbar, ob eins der nicht gelösten Dinge vielleicht das ganze Projekt lahmlegt. Warten auf die richtigen Antworten, keine Kontrolle, Unsicherheit. Vielleicht ein ganz klein wenig vergleichbar mit entscheidenden Prüfungen, die nicht wiederholt werden können und ohne die die Fortsetzung des Studiums nicht möglich ist.

Das bedeutet viel Stress, der sich ganz unterschiedlich zeigt – ich wache in solchen Zeiten morgens sehr sehr früh auf und wälze im Kopf mögliche Probleme.

In meinem Fall ist die Unruhe inzwischen gewichen – Montagmorgen fahre ich nach Warschau und protokolliere den Zustand der Skulptur beim Abbau. Aber nicht immer lassen sich offene Fragen einfach lösen. Im Angesicht der Klimakatastrophe oder bei weiteren grundsätzlichen Konflikten werden wir noch lange mit ungelösten Problemen und neu auftauchenden Klippen zu tun haben.

Eine Unruhe, die bleibt – Unruhe, die da ist.

Die Frage ist nun, wie wir zu der Unruhe stehen – und was die Unruhe mit unserer Beziehung zu Gott macht.

Darauf gibt es naturgemäß mehrere mögliche Antworten. Ich möchte das in einen etwas weiteren Kontext stellen und zunächst nicht auf uns, sondern auf Religiosität allgemein schauen. Denn auch hier stellt sich die Frage, ob Religionen eher Trost oder eher Unruhe befördern.

Anders formuliert: Handelt es sich bei Religiosität um eine Kontingenzbewältigungspraxis oder um eine Kontingenzeröffnungspraxis?

Natürlich, ihr werdet es ahnen, ist beides möglich.

Zunächst: Was ist Kontingenzbewältigung?

Kurz gesagt geht es bei diesem Konzept (in Anknüpfung an Niklas Luhmann) darum, dass wir als Menschen Strategien brauchen, um die Zufälligkeiten und Unsicherheiten des Lebens aushalten. Neben anderen Möglichkeiten, diese Kontingenzen zu integrieren, ist die Religion ein Weg – um zum Beispiel den Tod auszuhalten oder die sinnlose Tragödie eines großen Unglücks. Für religiöse Menschen bietet der Glaube einen Halt und einen Sinn in diesem Leiden, wir verstehen Gott als einen, der Trost und Sinn schenkt.

Daran wurde oft kritisiert, dass religiöse Menschen manchmal zu schnell Antworten haben, wo doch die Fragen schon so unheimlich kompliziert sind. Du muss plötzlich eine einzige große Antwort wie „Gott liebt dich trotzdem“ für alle Zumutungen des Lebens herhalten.

Politisch haben die Sozialisten besonders die christliche Religion so verstanden. Im Sinne von: Auf gesellschaftliche Probleme finden sich religiöse Antworten, die die Menschen ruhigstellen und von der Revolte abhalten.

Unsere Religiosität hätte dann also das Ziel, die Unruhe zu beruhigen.

Das Gegenteil dieser Sicht wäre Religion als Kontingenzeröffnungspraxis.

Das bedeutet ganz grob gesprochen, dass Religionen dazu beitragen, die Unverständlichkeit der Welt offen zu halten. Oder anders: So verstanden kleistert Religion die Konflikte und offenen Brüche der Welt nicht zu, sondern zeigt gerade erst auf die Unzulänglichkeiten und unsere Grenzen.

Damit legt Religion den Finger in die Wunden, weil sie zeigt, wie wenig berechenbar unsere Welt ist. Religiöse Menschen wissen um das große Geheimnis Gottes und sind angesichts des Glaubens an einen guten und gerechten Gott von seiner Unverständlichkeit noch einmal besonders herausgefordert.

Politisch kann dieses Verständnis von Religion das Aufrütteln zur Tat bedeuten und damit auch einen starken sozialen Einsatz in der Welt rechtfertigen.

Nach diesem Verständnis ist Religion Unruhestifterin.

Aber wann ist Religion, wann ist unsere Glaubenspraxis wichtig, um Unruhe zu beruhigen und einzuhegen – und wann wiederum muss sie uns wachmachen und die Unruhe gerade erst wecken?

Im Evangelium hatten wir von Jesus gehört, der sagt, dass er Feuer auf die Erde bringen wolle und auch darüber hinaus Spaltung und alle mögliche Unruhe verursachen werde (Lk 12,49ff)

Jesus hat in sich beträchtliche Spannung gespürt und war selbst voller Unruhe und in Erwartung der Herrschaft Gottes (des „Himmelreiches“), von der er so oft sprach. Dafür erschien ihm auch die Spaltung legitim. Das Feuer soll wachrütteln.

Ich bin überzeugt: Es gibt auch heute Zeiten und Situationen, da braucht die Welt einen Weckruf – sei es in der Klimakatastrophe, sei es im Krieg Russlands gegen die Ukraine und besonders bei der aktuellen Sprengung des Kachovka-Staudamms mit seinen fürchterlichen Folgen, sei es bei Fragen wie Erziehung und Pflege. Christinnen und Christen können mit ihrer spezifischen Motivation auf verborgene oder versteckte Probleme hinweisen. Und Unruhe schaffen.

Das ist eine mögliche notwendige Unruhe. Aber auch in konkreten religiösen Fragen kann Unruhe etwas Gutes bedeuten: Augustinus beginnt seine religiöse Autobiographie mit dem Gebet zu Gott: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

Es gibt also auch eine heilsame Unruhe, die uns Menschen überhaupt erst bewegt, uns auf den Weg zu Gott zu machen, eine Sehnsucht und einen Wunsch nach Mehr, von dem der Kirchenvater spricht. Wir sollen nicht bei uns selbst sitzen bleiben, sondern aufbrechen zu ihm hin.

Das sind sie also, die wichtigen, die notwendigen Unruhen – sie wollen uns wachrütteln zum Einsatz für das Gottesreich, für die Krisen in der Welt, aber auch wach machen für Gott selbst.

Daneben stehen die Unruhen, die uns ängstigen oder sogar krank machen können. Vielleicht ähnlich der Unruhe, die ich am Anfang beschrieben habe – diese Unruhen gehen einher mit Angst vor Kontrollverlust, mit Zukunftssorgen, mit Panik oder Hilflosigkeit.

Das sind Unruhen, von denen ich glaube, dass Gott uns mittelfristig von ihnen befreien möchte – hier wird Religion als Kontingenzbewältigungspraxis wichtig.

Denn es gibt natürlich auch Zeiten und Situationen, in denen wir Trost brauchen. Dann sehnen wir uns nach Frieden und Ruhe, hoffen auf Gottes Güte und liebevolle Nähe.

Das ist der andere Jesus, den wir auch kennen, der Jesus, der sagt: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28)

Nicht der Jesus, der unter dem kommenden Gottesreich das Gericht sieht, an dem sich alle scheiden, sondern der, der aufrichten und trösten will. Auch vom Kirchbesuch erwarten sich ja viele einen Abstand von den Zumutungen der Welt mit einer schönen frommen Predigt – und nicht, dass sie schon wieder mit Problemen konfrontiert werden. Und ist das nicht auch legitim?

Es tut gut, dass Jesus nicht nur einer ist, der unser Leben in Unruhe bringen will, sondern uns auch Ruhe und Atem gönnt.

Aber das stellt auch an uns die Frage:

Wir sind aufgefordert, die Zeiten richtig zu lesen, die Situationen richtig einzuschätzen, wenn es darum geht, unsere Mitmenschen in eine gute Unruhe zu versetzen, sie herauszufordern und ihnen vielleicht eine neue  Bewegung zu geben.

Anderen hilft dagegen vielleicht unser Trost, ein gemeinsames Gebet, ein Wort der Hoffnung.

Ich habe fünf Jahre im Gefängnis als Seelsorger gearbeitet und dort stand ich mit den KollegInnen immer wieder im Austausch über diese Frage: Sollten wir die Inhaftierten zur Umkehr aufrütteln und unruhig machen, wenn sie sich einrichten in ihrem Selbstverständnis als Kriminelle – oder sollen wir sie in der Krisensituation Knast nicht lieber trösten und ihnen gut zusprechen?

Je nach Situation wird man sicher anders entscheiden zu haben – und das holzschnittartige Entweder-Oder ist ja auch nicht unbedingt realistisch, oft sind es Grauzonen, in denen wir uns bewegen.

Ich wünsche euch jedoch, dass ihr das gut unterscheiden könnt, wem wann und wie mit Kontingenzeröffnung oder Kontingenzbewältigung zu helfen ist.

Und ich wünsche euch auch, dass Gott euch mit heilsamer Unruhe zur rechten Zeit beschenkt.

Aber auch mit heilsamer Tröstung, wenn ihr euch in unheilvoller Unruhe verstrickt habt.

Gott segne unsere Unruhe und unsere Ruhe!

Gemeinde­versammlung

Das höchste beschlussfassende Gremium der KSG, die Gemeindeversammlung, tagte am 18.06.23

Hier das Protokoll.

Predigtreihe Juni 2023:
“Into the Unknown”

Zum Semesterthema haben die Hauptamtlichen im Juni 2023 eine Predigtreihe zum Thema “Into the Unknown” konzipiert. Den Auftakt macht P. Max Cappabianca OP.  Sein Thema: “Unsagbares” – der Glaube lebt davon, dass man ihn mitteilt und weitergibt. Doch ist das Wesentliche nicht nur unsichtbar, sondern auch unsagbar. Wie mit diesem Dilemma im Glauben umgehen?

04.06.2023 P. Max Cappabianca: Unsagbares
11.06.2023 René Pachmann: Unruhe
18.06.2023 Juliane Link: Unsichtbares
25.06.2023 Karen Siebert: Unafraid

ZielTeam

Du befindest dich im letzten Semester des Bachelor– oder Masterstudiengangs?
Auf der Zielgeraden liegt noch die Abschlussarbeit oder der letzte Prüfungsberg vor dir?

Im ZielTeam finden sich Menschen zusammen, die sich gegenseitig im letzten Studienabschnitt unterstützen.

Mit fester Struktur und viel Spaß wird die Erkenntnis gewonnen:

Gemeinsam geht es besser!

Erster Termin: 19.10.2023 | 10:00 – 12:30 Uhr

Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt.

Anmeldung bis 15.10.2023
Kontakt | Informationen: Karen Siebert