“männlich, weiblich und alles dazwischen”

Predigt von Juliane Link in der KSG Berlin am 09.07.2023

Seit kurzem ist Juliane Link verantwortlich für die queersensible Seelsorge in der KSG. In ihrer Predigt zeigt sie neue Perspektiven auf den ersten Schöpfungsbericht auf, der – wie auch viele andere Bibelstellen – durchaus als offen für die Realität vielfältiger Genderidentitäten und sexueller Orientierungen gelesen werden kann.

 

männlich und weiblich und alles dazwischen

Predigt von Juliane Link

In ihrer Predigt spricht Juliane Link über den weiten Raum der Möglichkeiten, den der erste Schöpfungsbericht mit Blick auf Genderidentitäten und sexuelle Orientierungen eröffnet. Außerdem teilt sie Überlegungen dazu, was wir in der KSG unter queersensibler Seelsorge verstehen und wie man mit dem Dilemma umgehen kann, wenn die eigenen Überzeugungen und das kirchliche Lehramt auseinandergehen.

Prolog zur Predigt: Freie Nacherzählung des ersten Schöpfungsberichts

Zu Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Aber die Erde war Chaos und Wüste. Dunkelheit lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Am ersten Tag schuf Gott auf diese Weise Tag und Nacht.

Aber Gott schuf auch die Dämmerung und den Sonnenaufgang und die blaue Stunde.

Und Gott fragte nicht, ob die blaue Stunde zum Tag oder zur Nacht gehört.

Am zweiten Tag schuf Gott Himmel und Erde.

Aber Gott schuf auch die Berge, die in den Himmel ragen und den Regen, der vom Himmel auf die Erde fällt. Gott schuf den Nebel und das Flimmern der Sommerhitze am Horizont. Gott schuf den Schnee und den Morgentau.

Und Gott fragte nicht, ob der Tau zum Himmel oder zur Erde gehört.

Am dritten Tag schuf Gott das Festland und schied es von den Meeren.

Aber Gott schuf auch die Inseln auf den Flüssen und die Seen im Landesinneren, das Wattenmeer und die Sandbänke, den Sumpf und das ewige Eis.

Und Gott fragte nicht, ob das ewige Eis zum Wasser oder zum Land gehört.

Am gleichen Tag schuf Gott das Gras und das Kraut und die Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen. Aber Gott schuf auch die Blumen, die zwischen den Gräsern auf der Wiese wachsen, die Kletterpflanzen, die sich an den Bäumen emporwinden, das Getreide auf dem Feld und die Kakteen. Gott schuf das Schilf, den Dschungel und das Gebüsch.

Und Gott fragte nicht, ob das Gebüsch zu den Gräsern oder zu den Bäumen gehört.

Am vierten Tag schuf Gott Sonne, Mond und Sterne. Aber Gott schuf auch die Zwergplaneten und die Kometen, die schwarzen Löcher und die Sternschnuppen und zwischen den Himmelskörpern den Weltraum.

Und Gott fragte nicht, ob die Lichtjahre zwischen Sonne und Mond zu dem einen oder zu dem anderen Gestirn gehören.

Am fünften Tag schuf Gott die Fische und die Meerestiere und die Vögel. Gott sprach, dass es im Wasser wimmeln soll vor Vielfalt und die Vögel fliegen sollen in aller Freiheit. Gott sprach: seid fruchtbar und vermehrt euch, erfüllt das Wasser mit eurer schillernden Anwesenheit und die Erde mit eurem Gesang.

Und angesichts ihrer Schönheit stellte Gott keine Fragen zu den fliegenden Fischen und den schwimmenden Enten und den tauchenden Kormoranen. Gott fragte nicht einmal, ob der Pinguin zu den Meerestieren oder zu den Vögeln gehört.

Am sechsten Tag schuf Gott die Landtiere: das Vieh und die Kriechtiere und das Wild der Erde, ein jedes nach seiner Art.

Und Gott sah, dass es gut war und er haderte nicht mit den Landtieren, die sich zum Wasser hingezogen fühlten und den flugunfähigen Vögeln. Gott mochte auch die Krokodile, die Schildkröten und den Vogelstrauß.

Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. Und Gott schuf die Menschen zu seinem Bilde, Gott schuf sie als männlich und weiblich.

Und manche waren eindeutig männlich oder eindeutig weiblich und fühlten sich hingezogen zum anderen Geschlecht. Aber Gott schuf auch Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten oder zu beiden Geschlechtern. Gott schuf männliche und weibliche Menschen, aber auch solche die trans oder inter waren. Und Gott fragte nicht, ob sie zu den weiblichen oder zu den männlichen gehören, denn sie alle glichen etwa der göttlichen Gestalt.

Stattdessen sprach Gott: Seid fruchtbar und vermehrt euch, seid zärtlich zueinander und kümmert euch um alles, was ich euch anvertraut habe.

Und dann sah Gott, dass es sehr gut war.

Und Gott segnete sie. Alle.

Im Zwischenraum ist Platz für Vielfalt

Liebe Studierende, liebe Gemeinde,

der Text, den wir gerade gehört haben ist inspiriert vom ersten Schöpfungsbericht der Bibel, aber auch von Irmtraud Fischer, einer Theologin, die sich mit Liebe und Sexualität im Alten Testament beschäftigt. Sie deutet den ersten Schöpfungsbericht, den wir in der Lesung gehört haben so, dass er ein möglichst umfassendes Bild von Gottes Schöpfung zu zeichnen versucht, indem er die äußersten Pole von all dem benennt, das von Gott geschaffen wird: Himmel und Erde, Land und Wasser, Sonne und Mond. Die gesamte Anlage des Textes ist polar: die äußeren Pole werden benannt, aber alles dazwischen ist auch gemeint, es wird berichtet, dass Gott Tag und Nacht erschafft, aber das dabei auch die Dämmerung entsteht, bleibt unerwähnt. Dabei spannt sich in dem weiten Raum zwischen den Polen Gottes Schöpfung erst auf. Es gibt sehr vieles in diesem Zwischenraum, all das gehört zu Gottes Schöpfung, es wird nur nicht explizit benannt. Irmtraud Fischer sagt: so ist es auch mit dem Menschen, der von Gott als männlich und weiblich geschaffen ist. In vielen Bibelstellen steht „Gott schuf die Menschen als Mann und Frau“, das ist aber eine ungenaue Übersetzung, eigentlich steht da: „als männlich und weiblich“. Und auch zwischen männlich und weiblich gibt es einen weiten Raum von Möglichkeiten, die nicht benannt, aber mitgemeint sind. In diesem Zwischenraum dürfen wir uns mit unserer Genderidentität verorten, auch wenn sie nicht eindeutig männlich oder weiblich ist und in diesem Zwischenraum ist Platz für die Vielfalt sexueller Orientierungen, die in uns genetisch angelegt sind.

Wer queer ist, ist in der KSG willkommen!

In dem Text, den ihr gerade gehört habt, habe ich versucht Beispiele für all das zu finden, was sich zwischen den Polen befindet und es zu würdigen. Denn unsere Welt wäre ganz schön arm und einseitig und langweilig, gäbe es nichts zwischen den Polen. Auch hier in der KSG gibt es Studierende, die sich als queer geoutet haben, einige mit der Bewegung OUT IN CHURCH, andere in persönlichen Gesprächen. Ich glaube, dass es eine sehr persönliche Entscheidung ist, ob man sich outen möchte oder nicht. Niemand, der queer ist, sollte unter Druck kommen, als Botschafter*in für die queer-Community auftreten zu müssen. Aber wenn ihr queer seid, dann sollt ihr wissen, dass ihr das hier sein dürft.

Queersensible Seelsorge: ein Angebot für alle!

Das wollte ich schon lange mal in einem Gottesdienst sagen, aber dafür, dass ich heute hier über diese Thema predige, gibt es einen Anlass: wir wollen damit feiern, dass wir uns als KSG entschieden haben, der Bitte des Bischofs zu folgen, eine Ansprechperson für queersensible Seelsorge zu benennen. Das hat einen Prozess angestoßen, in dem wir uns darüber Gedanken machen, welche Bedingungen es für queersensible Seelsorge in der KSG braucht: Und wir glauben: Die Voraussetzung dafür ist, dass die KSG ein queerfreundlicher Ort ist. Ein Ort, an dem sich niemand Sorgen machen muss, dass er wegen seiner sexuellen Orientierung oder wegen seiner Genderidentität verletzenden Bemerkungen ausgesetzt ist. In der Gemeindeversammlung haben wir vor kurzem darüber abgestimmt, dass wir so etwas nicht dulden und als Form von Diskriminierung verstehen. Und gleichzeitig haben wir im Gemeinderat darüber gesprochen, dass wir nicht einfach behaupten können, dass wir alle total offen und woke sind, während einige von uns vielleicht gar nicht so viel über Queerness wissen. Eine Sorge war, dass man ausversehen etwas Verletzendes sagt oder dass nicht alle gleicher Meinung sind, wie es auch bei anderen Themen in der KSG ist. Deshalb haben wir uns überlegt, dass wir ab jetzt immer wieder über das Thema informieren wollen, damit die, die sich nicht gut auskennen sensibilisiert und mit dem Thema vertrauter werden. Das werde ich als Verantwortliche für queersensible Seelsorge organisieren und dazu werde ich euch bald auch einladen, gemeinsam zu überlegen, was wir machen wollen. In diesem Sinne ist queersensible Seelsorge ein Angebot für alle.

Queersensible Seelsorge für LGBTQIA* Personen

Darüber hinaus ist queersensible Seelsorge aber natürlich auch ein Angebot für Menschen, die sich selbst als queer verstehen. Und ein kurzer Einschub: sie als queere Menschen zu bezeichnen, klingt für mich irgendwie komisch und aktuell wird meines Wissens nach stattdessen am häufigsten die Abkürzung LGBTQIA* verwendet. Das steht für lesbisch, schwul, trans*, queer, inter* und asexuell und das Sternchen am Ende ist ein Verweis darauf, dass es viele weitere Bezeichnungen und Verortungen von Personen geben kann.

Wenn ihr zu diesen Personen gehört, könnt ihr bei mir geistliche Begleitung, Coaching oder Seelsorge wahrzunehmen, aber auch die Gesprächsangebote von Pater Max und Karen sind queersensibel. Das war natürlich auch schon vorher so, aber jetzt ist es offiziell, dass man mit uns offen reden kann, ohne komische Reaktionen befürchten zu müssen. Warum müssen wir das so explizit sagen? Weil es leider nicht selbstverständlich ist. Wir sind uns bewusst, dass LGTBQIA* Personen im kirchlichen Kontext Verletzungen, Diskriminierung und Abwertung erfahren haben und an vielen Orten weiterhin erfahren. Mich empört das und ich schäme mich dafür. Wer Verletzendes erfahren hat, ganz gleich, welche Art von Verletzung und welcher Schweregrad, kann sich an uns wenden und muss keine Sorge haben, dass wir das nicht ernst nehmen.

Queere Theologie: Über den Umgang mit Clobber Passages und die Suche nach Vorbildern

Neben konkreter Seelsorge, zu der nach natürlich auch die Segnung von Paaren gehört, wollen wir im Rahmen der queersensiblen Seelsorge auch ein Angebot zu queerer Theologie machen. Queere Theologie befasst sich zum Beispiel mit den sogenannten „Clobber Passages“. Ich kann das heute hier nur anreißen, aber gemeint sind Bibelstellen, in denen homosexuelle Handlungen scheinbar verurteilt werden. Viele Stellen werden aber falsch übersetzt oder von uns heute falsch verstanden, weil wir den Kontext nicht kennen. Häufig geht es nicht um Homosexualität, sondern um eine Distanzierung von Zwangsprostitution und sexualisierter Gewalt, die manche Männer nicht nur an Frauen, sondern auch an anderen Männern verübten. Aber natürlich spiegeln die Texte auch die Gesellschaften wieder in denen sie entstanden sind: patriarchale Gesellschaften, in denen vieles undenkbar war, das für uns heute selbstverständlich ist, gerade mit Blick auf sexuelle Selbstbestimmung. Umso erstaunlicher ist es, dass es, gerade im Alten Testament, einige Bibelstellen gibt, in denen Menschen Beziehungen führen, die als queere Liebesbeziehungen gedeutet werden können. Ruth und Naomi oder David und Jonathan sind Beispiele. Mit der Bibel lässt sich Queerfeindlichkeit also nicht kohärent begründen.

Was machen wir mit dem Katechismus?

Aber dennoch gibt es für uns als Katholik*innen ein Problem: Was machen wir damit, dass die katholische Kirche in ihrem Katechismus die bestehende Vielfalt sexueller Orientierungen und Genderidentitäten nicht als gleichberechtigte Möglichkeiten anerkennt, die eigene Sexualität zu leben und homosexuelle Handlungen als unmoralisch verurteilt?

Ich habe darauf zwei Antworten:

1. Wir können immer noch für Veränderung eintreten.

Erstens: Wir können immer noch für Veränderung eintreten. Der synodale Weg hat das getan. Die Mehrheit der Beteiligten plädierte für das Grundsatzpapier „Leben in gelingenden Beziehungen“, das eine Weiterentwicklung der katholischen Sexualmoral vorsah. Aber obwohl die Bischöfe in der Versammlung zahlenmäßig in der Minderheit waren, konnten sie mit ihrem Veto den Beschluss kippen. Dennoch ist ein Handlungspapier verabschiedet worden, dass die Bischöfe dazu auffordert sich um das Thema queersensible Seelsorge in ihren Bistümern zu kümmern. Dem ist unser Bischof nachgekommen, allerdings sind wir als Hauptamtlichen Team der KSG der Meinung: die jetzige Strategie ist verbesserungswürdig. Wir arbeiten deshalb gerade an einem offenen Brief an den Bischof, den wir in den nächsten Tagen abschicken, danach veröffentlichen und dann könnt ihr ihn auch unterschreiben, wenn ihr euch unseren Veränderungsvorschlägen anschließen wollt.

2. Mich entscheiden: der Autorität folgen oder meiner inneren Stimme

Und die zweite Antwort, richtet sich auch an alle von euch die sich vielleicht nicht sicher sind, was richtig ist. Ich weiß, dass manchen von euch die Lehre der Kirche sehr wichtig ist. Vielleicht sorgt ihr euch, nicht mehr richtig katholisch zu sein, wenn ihr über LGTBQIA* Personen anders denkt, als diejenigen, die die Lehrmeinung der Kirche formuliert haben.

Mich hat in dieser Frage ein Buch von Doris Reisinger sehr inspiriert, eine Theologien, die sich viel mit dem Thema „spiritueller Missbrauch“ beschäftigt hat. Sie sagt: „In der Kirche hat es immer beides gegeben. Sie besitzt eine freiheitliche und eine autoritäre Tradition […] Sie kennt das Eintreten für den Menschen, seine Gotteskindschaft und sein freies Gewissen ebenso wie das Eintreten für die institutionelle Macht und Reputation, für eine vermeintlich objektive Wahrheit und Moral […]. Sie kennt die freie theologische Forschung mit ihren verschiedenen Lehrmeinungen und Schulen ebenso wie den Anspruch der römischen Kirchenleitung, alleine das ‚ordentliche Lehramt‘ zu sein. Diese beiden Traditionen finden sich schon im Neuen Testament“1 und in vielen theologischen Schriften. Auch im Katechismus finden sich neben den autoritären Passagen über Homosexualität Stellen, die der freiheitliche Tradition zuzuordnen sind, zum Beispiel: „Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden.“2 Und im Folgenden wird ausdrücklich erklärt, dass der Mensch nicht daran gehindert werden darf, „gemäß seinem Gewissen zu handeln“3. Wie passt das nun zusammen? Doris Reisinger argumentiert: es passt überhaupt nicht zusammen und genau das ist das Problem: in ihrer Lehre springt die Kirche zwischen zwei Traditionslinien hin und her, obwohl beide sich widersprechen. Wenn nun mein Gewissen mir sagt, dass die Abwertung von LGTBQIA* Personen ebenso falsch und unmoralisch ist wie Rassismus oder Sexismus, der Katechismus aber eine solche Abwertung als Teil der katholischen Lehre festschreibt, dann sind wir als Katholik*innen in einem Dilemma, das Doris Reisinger so beschreibt: „Wenn eine geistliche Autorität und das eigene Selbst verschiedener Auffassung darüber sind, was Gott will und was richtig ist, lässt sich das nur auf zwei verschiedene Weisen lösen: Entweder ich folge der Autorität oder ich folge meiner inneren Stimme.“4

Und ich glaube im Moment muss jeder und jede von uns bezüglich dieser Frage eine eigene Entscheidung treffen. In dem Wissen, dass die KSG ein Ort ist, wo man seiner inneren Stimme folgen darf. Und ich persönlich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass es solche Orte in der Kirche gibt. Denn wenn wir noch einmal zum ersten Schöpfungsbericht zurückkommen, lese ich dort auch: Gott hat uns neben unserer Sexualität noch viel mehr gegeben: Unsere Freiheit zum Beispiel. Und unsere Verantwortung füreinander und für das Ganze.

1 Doris Wagner (heute: Reisinger): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2020, S.148 f.

2 Nummer 1782, hier nachzulesen: http://www.pfarrer.at/katechismus_moral_gebote.htm

3 Ebd.

4 Doris Wagner (heute: Reisinger): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2020, S.150.