Kernprofil des Christentums: “Versöhnung”

Predigt von P. Thomas Eggensperger OP  in der KSG Berlin am 17.09.2023

 

Lesung: Sir 27, 30 – 28,7

Evangelium: Mt 18, 21-35

(24. Sonntag im Jk)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Es ist evident, dass das Phänomen der „Versöhnung“ für das christliche Leben zentral ist. Vor allem die jüdisch-christliche Tradition kann sich zugutehalten, diese Kategorie in die Kultur- und Geistesgeschichte eingebracht zu haben. Wenn es ein wirkliches Spezifikum christlicher Religion geben sollte, etwas, was sie von anderen Religionen wesentlich unterscheidet, dann ist es wohl u.a. das Ereignis der Versöhnung.

Nicht, dass es Versöhnung und die entsprechende Beziehung zu Schuld und Sünde religionsgeschichtlich nirgendwo anders gegeben hätte, aber in der Ausprägung dessen, was heute unter ihr verstanden wird, war das christliche Verständnis das nachhaltigste. Die Schriften des Alten und Neuen Bundes sind voll von Geschichten der Versöhnung.

Über Versöhnung haben bereits viele bedeutende Denker, Philosophen, Theologen und Künstler nachgedacht. Heute möchte ich auf eine Frau eingehen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Ich spreche von Hannah Arendt.[1] Sie ist eine der bedeutenden deutschen Philosophinnen, die wegen ihrer jüdischen Abstammung in die USA emigrierte und dort Karriere machte zunächst als Journalistin, dann als Forscherin für Politische Theorie in Chicago und New York, bis sie dann 1975 starb.

Hannah Arendt hat ein Buch geschrieben, welches über das menschliche Handeln nachdenkt. Der Titel des Buches lautet auf Deutsch: „Vita Activa oder vom Tätigen Leben“ und versucht das Handeln des Menschen als Einzelnem, aber auch als ein Teil der Gesellschaft zu umschreiben. Es führt zu weit, dieses Buch an dieser Stelle zu präsentieren, sondern ich möchte nur auf ein einziges Kapitel in dem Werk eingehen, das die „Versöhnung“ zum Thema hat.[2]

Das Buch – erschienen übrigens 1958 – geht aus von der Freiheit des Menschen mit der Konsequenz, dass er für alles, was er tut, verantwortlich ist. Arendt benennt dabei zwei Weisen der Freiheit: Zum einen die so genannte metaphysische Freiheit, die jedem von Anbeginn gegeben ist, und zum anderen die politische Freiheit, die allerdings erst zu entwickeln ist und um die der Mensch ringen muss. Politische Freiheit kann aber nicht im privaten, sondern nur im politischen Bereich erfahren werden, nämlich in der Teilnahme am politischen Geschehen des eigenen Gemeinwesens.

Das Kapitel 33, das überschrieben ist mit „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“,[3] diskutiert das Phänomen des Verzeihens im Kontext des handelnden und freien Menschen:

„Das Heilmittel … dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen.“[4]

Dies ist zu präzisieren: Die eigene Erfahrung, dass Verzeihung gewährt wird bzw. Versprechen gehalten werden, ist Voraussetzung dafür, dass jemand sich selbst verzeihen bzw. etwas halten kann.

Nach Arendt zeigt sich, wie viel Macht dem Menschen eigen ist im Vermögen zum Handeln, wenn man sich vor Augen hält, wie zerstörerisch eine Situation ohne Handeln wäre.

Arendt weist ausdrücklich darauf hin, dass es Jesus von Nazareth war, der als erstes die Bedeutung von Verzeihen im Bereich des Menschlichen gesehen hat. Zumindest sieht sie keine vergleichbaren Traditionen, wenn man einmal vom römischen Prinzip der Schonung des Besiegten (parcere subiectis) oder dem Begnadigungsrecht absieht.

Der entscheidende Punkt ist, dass Gott erst vergeben kann, wenn die Menschen sich dazu aufgerafft haben, zu vergeben. Fehlverhalten ist ein alltägliches Vorkommnis menschlichen Handelns, aber es bedarf gemäß dem Evangelium der jeweiligen Verzeihung. Im Gegensatz zur Rache ist Verzeihung per se unerwartet und unberechenbar.

Böse Taten sind Untaten, weil sie den zwischenmenschlichen Machtbereich zerstört. Arendt betont, dass das Vergeben sich nicht auf eine Sache, sondern auf eine Person bezieht. Verzeiht man dem Übeltäter, verzeiht man ihm zwar, aber das begangene Unrecht bleibt weiterhin Unrecht.

Im Politischen ist das Verzeihen ihrer Meinung nach unter anderem deshalb niemals ernst genommen worden, weil es aus dem benannten religiösen Kontext entstammt und vom Phänomen der Liebe abhängig gemacht wurde.

Arendt bezieht sich dabei sowohl auf das Liebesgebot Jesu bei der Begegnung mit der Sünderin („Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat, Lk 7, 47) als auch auf die unendliche Macht von wahrer Liebe, die verzeiht, weil der oder die Liebende „mit Blindheit geschlagen“ ist hinsichtlich der Vorzüge und Mängel des oder der Anderen.

Allerdings stimmt Arendt der Einschätzung nicht zu, dass ausschließlich die Liebe verzeihen kann, wie es ihrer Meinung nach im Christentum behauptet wird. Dafür ist ihr die Liebe eine zu eng geführte Vorstellung, die sie zu erweitern sucht. Deshalb schlägt sie als Alternative den „Respekt“ vor, weil er zum einen bedeutet, die Person zu achten (wenngleich ohne der Intimität von Liebe) und zum anderen, sie zu respektieren unabhängig von der jeweiligen Eigenschaft der Person.

„Jedenfalls bildet Respekt durchaus einen hinreichenden Beweggrund, jemanden das, was er getan hat, zu vergeben, um dessentwillen, der er ist.“[5]

Die pessimistische Vermutung Arendts aus den ausgehenden fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dass das Verzeihen im Politischen nicht ernst genommen wird, darf man heute relativieren. Die Philosophin behauptet auch nicht, dass es so etwas nie gegeben habe, aber sie konzediert, dass die entsprechenden Versuche nicht konsequent oder nachhaltig genug waren. Dennoch ist Versöhnung, wie bereits dargestellt, inzwischen eine aktuelle Komponente sowohl des politischen Alltagsgeschäftes als auch der philosophisch-politischen Theorie. Die politische Versöhnungsarbeit von heute wird geleistet auf unterschiedlichen Niveaus und in mehreren Etappen.

Neben dem Versuch der Aufdeckung von Wahrheit (z.B. in Wahrheitskommissionen), der Suche nach Gerechtigkeit (Strafgerechtigkeit als restaurative Gerechtigkeit) steht die Versöhnung. So existiert heute neben der theologischen Komponente von Versöhnung eine philosophisch-politische, die ihren Grund in der Theologie hat, aber inzwischen gleichberechtigt neben ihr steht.

Versöhnung – auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich – ist ein hohes Gut und es braucht erst einmal die Voraussetzungen dafür. Wenn wir uns das am Beispiel des Ukraine-Kriegs anschauen, dann merken wir schnell, wie viel es braucht an Grundlagen, um überhaupt über Vergeben und Versöhnen zu reden.

Ich denke, dass die Denkerin Hannah Arendt viel dazu beigesteuert hat, die Versöhnung als zentralen Punkt christlicher Religion wahrzunehmen. Man sollte ihr dankbar sein.

Amen.

 

Thomas Eggensperger OP

 

[1] Folgende Ausführungen entnehme ich: Thomas Eggensperger, Die Macht zu verzeihen. Versöhnung als Aufgabe der politischen Philosophie, in: Alessandro Cortesi / Thomas Eggensperger / Ulrich Engel (Hrsg.), Versöhnung. Theologie – Philosophie – Politik. Riconciliazione. Teologia – filosofia – politica (Kultur und Religion in Europa Bd. 5), Münster 2006, 83-99.

[2] Es handelt sich um das 33. Kapitel von Hannah Arendt, The Human Condition, University of Chicago Press, Chicago 1958. Deutsch: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 231-238.

[3] Arendt, Vita activa, a.a.O., 231-238.

[4] Ebd., 231.

[5] Arendt, Vita activa, a.a.O., 238.