Ich hole euch aus euren Gräbern herauf

P. Ulrich Engel ergründet, was passieren würde, wenn die Vision des Propheten Ezechiel heute wahr würde: Ich werde eure Gräber öffnen und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufholen Ich gebe meinen Geist in euch, dann werdet ihr lebendig.

Ez 37, 12b–14:

So spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zum Ackerboden Israels. Und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Ich gebe meinen Geist in euch, dann werdet ihr lebendig und ich versetze euch wieder auf euren Ackerboden. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin. Ich habe gesprochen und ich führe es aus – Spruch des HERRN.

Liebe Gemeinde,
das Volk Israel hat seine Heimat verloren.

Nicht nur die Eliten wurden nach Babylon, in ein fremdes Land, deportiert.

Dort, im babylonischen Exil, sind die Menschen ohne Hoffnung auf eine Wende ihres Schicksals.

Nicht nur Einzelne haben ihre Hoffnung verloren. Das ganze Volk – kollektiv – erfährt seine Situation wie gestorben und begraben.

Das war passierte im 6. Jahrhundert vor Christus.

Es gibt aber auch heute viele Situationen, in denen Menschen sich wie tot und begraben fühlen:

  • das kann eine Depression sein, die mich in eine Situation gebracht hat, in der ich total antriebslos bin, nicht mehr aus dem Bett komme, keine Kraft mehr für irgendetwas habe, meine Freundinnen und Freunde nicht mehr sehen will…
  • das kann ein Scheitern in meinem Studium sein – wenn ich eine wichtige Prüfung vergeigt habe, wenn gar der ganze Abschluss gefährdet ist, wenn ich mit meiner Dissertation nicht weiterkomme und zu Hause keiner etwas ahnt und alle sich bereits auf die strahlend-erfolgreiche Absolventin warten…
  • das kann ein Krieg sein oder ein Bürgerkrieg – egal ob in der Ukraine, in Somalia,

Syrien oder in Myanmar: dort, wo Menschen zermürbt von der Gewalt ihre Hoffnung auf Frieden verlieren, dort, wo Menschen Angst haben um Leib und Leben ihrer Liebsten, da wo Familienangehörige vermisst werden oder bereits Opfer des Kriegs geworden sind…

  • das kann das bittere Aus meiner Beziehung sein, deren Krise ich lange verdrängt habe und die doch viele Jahre so harmonisch war, die mich und meine*n Partner*in damals so glücklich gemacht hat…
  • das kann eine schwere Krebserkrankung sein, die mich oder jemand in meiner Familie trifft – plötzlich und mit unsicherer Prognose…
  • das kann die unerwartete Kündigung meiner Wohnung wegen Eigenbedarfs des Vermieters sein, oder der kurzfristige Verlust meines Jobs, meines Arbeitsplatzes wegen Insolvenz…Es gibt so viele Situationen, in denen Menschen sich wie tot und begraben fühlen.

Und in all diese tragischen und traurigen Situationen hinein sagt der Prophet Ezechiel in der heutigen Lesung etwas Unglaubliches:

  • Ich öffne eure Gräber.
  • Ich hole euch aus euren Gräbern herauf.
  • Ich schenke euch meinen Geist.
  • Ich mache euch wieder lebendig.Gott will, dass sein Volk lebt. Dazu holt er die Menschen aus ihren Gräbern heraus. Er führt die Deportierten in ihre Heimat zurück. Und in der Tat war mit der Eroberung

Babylons durch Kaiser Kyros nach etwa 70 Jahren die Zeit des erzwungenen Exils zu Ende.

Ezechiel behauptet: Die Rückkehr der Deportierten in ihre Heimat ist das Werk des Gottesgeistes. Die Geistkraft Gottes schafft neues Leben. Der Gottesgeist schenkt uns neue Hoffnung.

In der Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom (Röm 8,8–11) ist auch von dem Gottesgeist die Rede. Viele Jahrhunderte nach Ezechiel.

Mir ist aufgefallen: Gleich drei Mal in unserem kurzen Lesungstext behauptet Paulus, dass die Geistkraft in uns wohnt. Und diese in uns existierende Kraft kann – so die zweite steile These des Paulus, diese in uns existierende Kraft kann uns wieder lebendig machen.

Kann ich das ernsthaft glauben?

Das Argument, mit dem Paulus seine Behauptung untermauert, heißt: Die Geistkraft war es, die Jesus aus dem Tod geholt hat. Und genau dieser Geist, der an Jesus schon einmal und definitiv seine Kraft und Wirkmächtigkeit bewiesen hat, genau dieser Geist wohnt auch in uns: in mir, in dir, in jeder*jedem von uns!

Und mehr noch: Diese Kraft, die im Tiefsten meines eigenen Seins existiert, die kann mich wieder lebendig machen. Sie kann mir Lebensmut zurückgeben. Und Kraft, neu anzufangen. Sie kann mir die Hoffnung schenken, dass trotz allen schlimmen Erfahrungen, die ich machen musste, ein Neuanfang möglich ist. Es ist nicht zu spät! Und es ist nicht unmöglich. Den Gottes Geistkraft ist schon längst in uns lebendig!

Eine steile These! Eine ungeheuerliche Behauptung! Was wäre, wenn das wirklich wahr wäre?

Ja, wenn das wirklich wahr ist, was Ezechiel und Paulus behaupten, dann dürfte ich begründet hoffen,

  • dass ich aus dem dunklen Tunnel meiner Depression wieder herauskommen und Licht sehen kann,
  • dass ich trotz der gescheiterten Prüfung nicht wertlos bin,
  • dass Krieg und Bürgerkrieg ein Ende haben werden,
  • dass ich einen neue*n Partner*in finden werde und sich mein Schmerz in Glück verwandeln kann,
  • dass ein Leben auch mit einer schweren Erkrankung Glücksmomente haben kann,
  • dass ich auch ohne Wohnung und Arbeit nicht auf der Straße stehen werde, sondern dass da Menschen und neue Möglichkeiten sind, die mir neue Perspektiven eröffnen.

Ich glaube das, weil Gott mir Geistkraft schenkt. Weil diese Kraft mich lebendig machen kann. Weil diese Kraft schon in mir ist. Das gibt mir Hoffnung. Trotz allem. Amen.