Into the Unknown – 3. Unsichtbares
Predigt von Juliane Link in der KSG Berlin am 18.06.2023
Juliane Link fragt sich in ihrer Predigt, warum Gott unsichtbar ist und ob man das Unsichtbare nicht doch irgendwie sehen kann. Eine Begegnung zwischen Gott und Mose und ein altes Gemälde inspirieren Juliane dazu, nach den Spuren Gottes zu suchen, den man nicht sehen, dem man aber hinthersehen kann.
Liebe Studierende, liebe Gemeinde,
im Mai 2021 kam es in einem Aktionshaus in Mailand zu einem seltsamen Vorfall, über den weltweit mit Häme und Empörung berichtet wurde: der italienische Gegenwartskünstler Salvatore Garau bot dort eine Skulptur mit dem Titel „io sono“ „ich bin“ zum Verkauf. Die künstlerische Arbeit, so warb der Prospekt, sei ein Werk “von größter Wichtigkeit und intellektueller Stimulation”. Einen Verkaufspreis von 6000 bis 8000 Euro erwartete man. Am Ende wurde „io sono“ für den doppelten Preis versteigert. “Und 15 000 Euro sind wirklich, wirklich wenig Geld für einen original Garau”, sagt der Künstler dazu.
Salvatore Garau, io sono, 2021
15 000 Euro für ein unsichtbares Kunstwerk?!
So weit, so gut. Und wo ist nun der Skandal? Nunja… mit der Skulptur gibt es ein Problem: sie ist unsichtbar. Der Käufer erhielt beim Erwerb der Skulptur lediglich ein Zertifikat, mit der Anweisung: “Aufzustellen in einem Privathaus, in einem Raum frei von Hindernissen auf 150 x 150 cm.” Garau veröffentlichte Fotos von seinem unsichtbaren Werk, das seiner Behauptung nach zu diesem Zeitpunkt auf einem öffentlichen Platz in Mailand stand, zu sehen ist aber nur das Klebeband auf dem Boden, das die Maße der Skulptur markiert. Er erntete einen Shitstorm auf Social Media.
Fassen wir zusammen: Ein Künstler hat ein unsichtbares Kunstwerk für sehr viel Geld verkauft. Diese künstlerische Geste, lässt sich zwar kunsthistorisch gut verorten, sie hat ihre Vorbilder in den Arbeiten Duchamps und der Konzeptkunst der 70er Jahre, aber offenbar verärgert es trotzdem viele Menschen, wenn jemand so offensichtlich etwas verkauft, von dem man nichts hat und damit auch noch so erfolgreich ist. Moralische und ästhetische Fragen schließen sich an: Ist Kunst eh bloß eine leere Behauptung, sodass man auch ein nicht vorhandenes Kunstwerk als solches deklarieren und verkaufen kann? Wie kann man so dreist sein für dieses Nichts so viel Geld zu verlangen? Und wie kann es sein, dass jemand bereit ist, dafür soviel Geld auszugeben?
Ist der Kunstsammler verrückt? Und wir? Sind wir nicht ebenso naiv, wenn wir an einen unsichtbaren Gott glauben?
Auf den ersten Blick hat diese Debatte wenig mit theologischen Fragen zu tun. Dabei haben das Kunstwerk und Gott doch etwas Entscheidendes gemeinsam: beide sind unsichtbar. An beiden kann man zweifeln, sich fragen, ob sie tatsächlich existieren, ob es sich lohnt, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihnen im eigenen Leben Raum zu geben, dafür Zeit oder Geld aufzuwenden. Beide werden für das Leben der Menschen, die sich für sie interessieren, erst bedeutsam, weil von ihnen erzählt und über sie geschrieben wird, weil es Rituale gibt mit denen sie gewürdigt werden: Das Kunstwerk wird ausgestellt und verkauft.. Und Gott? Versucht die Kirche nicht auch irgendwie uns Gott anzupreisen, wie der Künstler, der behauptet, sein Werk sei mindestens 6000 Euro wert? Für jemandem dem unsere religiöse Welt fremd ist, mag das, was wir heute im Gottesdienst tun, ebenso absurd sein, wie ein unsichtbares Kunstwerk aufzustellen: alles dreht sich um jemanden, dessen Anwesenheit nicht sichtbar ist. Wir behaupten er sei da, wir sprechen ihn an, wir beten zu ihm. Aber Gott offenbart sich dabei nicht wie in der Lesung, die wir heute gehört haben, mit einer hörbaren Stimme. Und in unserem Gottesdienst wird vermutlich keine Wolkensäule erscheinen, in der sich Gott zwar verbirgt, aber in der seine Anwesenheit doch durch ein eindeutiges, sichtbares und wundersames Zeichen markiert ist. Sicher wir feiern im Gottesdienst Eucharistie, wir vollziehen Handlungen, die uns heilig sind. Aber unterscheidet sich unser Glaube dabei wirklich so fundamental von dem Glauben eines Kunstsammlers, der sich in einem Aktionshaus eine unsichtbare Skulptur übergeben lässt und dabei 15.000 Euro über den Tisch reicht? Glaubt der Kunstsammler überhaupt, dass er ein Kunstwerk bekommt? Und wir, glauben wir wirklich, was wir hier tun, singen und beten? Und wennja, woran merken wir das? Ich möchte mit dieser Predigt keine Antworten auf diese Fragen geben, euch nur anregen, eure eigenen Antworten auf diese Fragen zu suchen, während wir hier diesen Gottesdienst feiern.
Warum Gott unsichtbar bleiben muss und warum das für Gott ungünstig ist
In der Szene, die wir in der Lesung gehört haben, ist Mose intensiv im Gespräch mit Gott. Das Gespräch ereignet sich in der Wüste, in der Zeit in der das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten heimatlos umherzieht und sich in einer tiefen Krise befindet. Gott und Mose reden, wie einer mit seinem Freund spricht, so erzählt es die Geschichte. Schon diese Form des Gesprächs erscheint uns heute unrealistisch. Aber selbst zu einer Zeit, in der das möglich schien, war eines unmöglich: Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Gott ist seiner eigenen Definition nach für den Menschen unsichtbar. Oder besser gesagt: der Mensch ist nicht fähig, er könnte es nicht aushalten, Gott wirklich unmittelbar zu schauen. Deshalb verbirgt sich Gott.
Gott bleibt also unsichtbar und seine Unsichtbarkeit macht ihn heute für uns fragwürdig und auch ein bisschen langweilig. Wir leben in einem Zeitalter der Bilder, der vielen, der schnellen Bilder (iconic turn), die auf unseren Bildschirmen aufleuchten, kurz, um sofort abgelöst zu werden von anderen Bildern. Gott hat es schwer auf Instagram, er liefert zu wenig Content. Wer unsichtbar ist, der läuft Gefahr übersehen zu werden, in Vergessenheit zu geraten, in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Wer keine Bilder von sich zeigt, ist langweilig oder, noch schlimmer gar nicht mehr da. Vielleicht würde es uns leichter fallen, innerlich mit Gott in Kontakt zu bleiben, hätten wir täglich von ihm ein Selfie. Das gibt es nicht.
Was es trotzdem von Gott zu sehen gibt
Und dennoch gibt es von Gott etwas zu sehen. Für mich gibt es dafür zwei Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit ist die Kontemplation, eine Form des stillen Gebetes, der Meditation, der Innenschau, in der wir uns einüben unsere Aufmerksamkeit auf den uns innewohnenden Gott zu richten, um ihn mit unserem inneren Auge zu sehen. Kontemplation meint „Schau“ und dieser Weg ist der Weg der christlichen Mysthiker*innen von den Wüstenvätern bis heute, es ist ein Weg der Stille und Reduktion, ein Weg der inneren Erfahrung, über den sich nur in Metaphern sprechen lässt. Ich glaube, dass es ein lohnenswerter Weg ist, auch wenn er nicht recht zu unserer Zeit zu passen scheint. Denn statt auf viele Fotos schauen wir in der Kontempation mit geschlossenen Augen auf das Unsichtbare. Ich gebe zu, das ist manchmal langweilig und manchmal anstrengend.
Die zweite Möglichkeit Gott zu sehen, ähnelt ein wenig dem, was Gott Mose anbietet, als er Moses Wunsch zurückweist, ihn sehen zu dürfen. Gott sagt, vielleicht um Mose zu trösten, dass er, wenn Gott vorübergezogen ist, einen Blick auf seinen Rücken werfen darf, einen Blick von weitem auf den Vorübergegangen. In der lutherischen Übersetzung heißt es: „und du darfst hinter mir her sehen“
Vielleicht kann man Gott so am leichtesten sehen, indem man ihm hinterhersieht.
Vielleicht kann man Gott so am leichtesten sehen, indem man ihm hinterhersieht. Mit dem rückwärtsgewandten Blick, dem Blick, auf das, was war. Es ist ein Blick, der nachträglich erkennt: hier ist Gott gewesen. Hier ist er an mir vorübergezogen, hier hat er Spuren hinterlassen in meinem Leben. Oder auch ein Blick, mit dem wir Gott im Hier und Jetzt erkennen. Wir können Gott sehen, wie wir den Wind sehen, der die Blätter der Bäume bewegt. Wir können sehen, was Gott bewirkt.
Ich habe Gott gesehen in den strahlenden Gesichtern von Menschen, die ich im März durch in einem Exerzitienkurs begleitet habe, als sie mir von ihren Erfahrungen in der Stille erzählten. Ich habe Gott gesehen, in den Tränen einer Freundin, als sie nach Jahren der Qual zum ersten Mal einen Sinn in ihrer Krankheit erkennen konnte. Ich habe Gott gesehen in der überwältigenden Schönheit der Natur, ihrer Ruhe und Weite, ihren tausend erstaunlichen Details. Ich habe Gott gesehen in den Augen eines fremden, kleinen Kindes, das mich in der U-Bahn so wach und wissend und durchdringend ansah, als wisse es alles über mich.
Und natürlich lässt sich all das, was ich von Gott gesehen habe, auch auf andere Ursachen zurückführen. Aber es geht mir in dieser Predigt nicht darum Gottes unsichtbare Existenz zu beweisen, ihn ans Licht zu zerren. Es geht mir eher darum, euch zu inspirieren, dem Sichtbaren einen Verweischarakter auf das Unsichtbare zuzutrauen.
Der Unsichtbare als Hinzutretender: wie Gott sich auf einem Gemälde von Antonella da Messina bemerkbar macht
Antonella da Messina, um 1475
Ich möchte deshalb der unsichtbaren Skulptur von Salvatore Garau noch ein zweites Kunstwerk zur Seite stellen, das viel älter ist. Es stammt ebenfalls von einem italienischen Künstler, Antonello da Messina, der im 15. Jahrhundert auf Sizilien lebte. Von ihm stammt das Bild der Frau mit dem blauen Schleier, das ihr auf eurem Sitzplatz gefunden habt. Wenn ihr das Bild anschaut, seht ihr dort eine Frau in einem dunklen Raum, vor der sich ein kleines Pult befindet, auf dem ein Textheft liegt. Schaut mal kurz genauer hin, ob euch etwas auffällt an diesem Heft. …..
Wenn wir die Frau genauer betrachten, fällt ihr abgewanderter Blick auf, ihr Gesichtsausdruck wirkt etwas starr und entrückt, ist deshalb schwer zu deuten, ihr müsst aber bedenken, dass es zu der Zeit von Antonella da Messina völlig neu war, menschliche Gesichter so nah an den Betrachter heran zu holen und Menschen in ihrer Individualität zu portraitieren. Mit der linken Hand hält die Frau das blaue Tuch zusammen, das ihren Kopf bedeckt. Mit der rechten macht sie eine Geste, die der Künstler in einem Moment festgehalten hat, in dem noch nicht entschieden ist, was diese Geste meint. Will sie jemanden abwehren, zurückweisen, schnellt die Hand erschrocken zurück? Oder ist sie dabei, zögerlich, vielleicht schüchtern, vielleicht misstrauisch, die Hand zum Gruß zu heben? In jedem Fall deutet die Hand an, dass es ein Gegenüber gibt, jemanden auf den sie reagier. Jemanden, der für uns als Betrachter*innen des Bildes nicht sichtbar ist. Wenn wir den Bildraum imaginär erweitern, dann müssten die Person, auf die die Frau reagiert, sich in unserer Nähe befinden, vielleicht direkt neben uns stehen. Es scheint als habe dieser jemand, gerade die Tür des Raumes geöffnet, als sei er gerade eingetreten und habe mit dem Öffnen der Tür oder den Bewegungen seiner Ankunft einen Luftstrom erzeugt, der die Seiten des Textheftes aufblättert. Und die Geste der Frau, das Zusammenhalten des Tuchs, vielleicht auch das eine Reaktion auf einen Windstoß, der ihr durch die Kleider fährt?
Das Gemälde ist berühmt geworden, weil es ein alt hergebrachtes Bildmotiv der Kunstgeschichte neu interpretiert: Die Frau in Blau ist Maria. Und der Hinzugetretene, den wir nicht sehen, ist der Engel Gabriel. Es handelt sich um eine der ersten Verkündigungsszenen, in der Gottes Bote unsichtbar ist. Man kann dieses Bild nicht verstehen, wenn man die Geschichte von Maria und ihrer geheimnisvollen Schwangerschaft nicht kennt. Aber wenn man sie kennt, dann kann man sehen, wer da unsichtbar hinzugetreten ist.
Welche Zeichen von Gottes Anwesenheit gibt es in meinem Leben?
Die Zeichen der Anwesenheit des Unsichtbaren sie sind da, sie sind sichtbar, aber es ist an uns sie zu deuten, sie zu verstehen, die Geschichten zu erzählen, die die Wirkzusammenhänge zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren herstellen.
Und vielleicht hat es dann doch sein Gutes, dass wir Gott nicht sehen können. Dass er sich nicht festlegen lässt auf eine bestimmte Gestalt. Dass wir uns immer neu fragen müssen: glaube ich eigentlich noch an ihn? Gibt es für mich Zeichen seiner Anwesenheit? Kann ich mein Leben so sehen, dass ich darin Spuren finde, des vorübergegangen oder des hinzutretenden Gottes?
Wenn ich diesen Fragen nachgehe, dann hat vielleicht sogar Garaus Skulptur ihre Berechtigung, weil sie uns daran erinnert, welchen Wert das Unsichtbare für uns haben kann. Noch dazu heißt die Skulptur vielleicht nicht zufällig „io sono“, genauso wie Gott sich selbst beschreibt, als er Mose zum ersten Mal im brennenden Dornbusch erscheint: „Ich bin der ich bin“.